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Mut zur Lücke
Zum Beispiel Hoyerswerda: Ein Kunstprojekt versucht, ostdeutsche Städte zu beleben


In der Lausitz zog die Avantgarde schon immer mit dem Bagger ein. Als Bauarbeiter hier im Jahr 1957 den ersten Plattenbau der Welt errichteten, gaben sie den Startschuss für eines der ehrgeizigsten Architekturprojekte der Moderne: Hoyerswerda-Neustadt. Heute lärmen die Bagger wieder. Nur reißen sie die Plattenbauten diesmal ein.
Hoyerswerda blutet aus. Pro Jahr verlassen 1500 bis 2000 Menschen die Stadt. Um keine Geisterhäuser entstehen zu lassen, walzt die Wohnungsgesellschaft die leer geräumten Häuser nieder. Sechs Wochen wüten die Maschinen im Wohnkomplex acht, kurz „WK8“. Wo früher Arbeiter des Braunkohlewerk „Schwarze Pumpe“ lebten, entsteht eine grüne Wiese. Das verkündet zumindest ein Schild des Kunstprojekts „Superumbau“, das den Abriss begleitet.
Der erste Bau liegt schon in Schutt und Trümmern, an das Haus erinnert nur noch ein staubiger Berg aus Kabeln, Betonsplittern und Stahlrohren. Ein Berg, der für das Elend zahlreicher Städte steht, die keineswegs nur in Ostdeutschland rasant an Einwohnern verlieren. In beinahe jedem Land der Welt finden sich schrumpfende Städte. Für Architekten und Stadtplaner kündigt sich ein Paradigmenwechsel an: Anstatt das Wachstum der Städte zu organisieren, müssen sie deren Abbau gestalten. „Niemand wird die Schrumpfung verhindern. Wir müssen einen Umgang mit ihr finden, nur so entwickeln die Bewohner neue Perspektiven für die Stadt“, sagt Architektin Dorit Baumeister, die Leiterin von „Superumbau“.
Baumeister kennt den Einfluss der Architektur auf die Psychologie aus der eigenen Erfahrung. Sie hat selbst einmal in dem jetzt abgerissenen Block gewohnt, zog aber 1968 „voller Frust“ aus Hoyerswerda fort. Der Frust der Zurückgebliebenen ist das Hauptproblem dessen, was Architekten vornehm beschönigend „Rückbau“ nennen. Denn der reißt nicht allein Wunden ins Stadtbild. Bürger, die täglich erleben wie Bagger ihre Nachbarhäuser zertrümmern, entwickeln keine Eigeninitiative für ihre Heimat: der Todesstoß für jedes Stadtleben.
Findet sich kein neuer Investor für, die Abbruchflächen, mutieren die Brachen zum Mahnmal des Elends. Die Architektur schrumpfender Städte erfordert Mut zur Lücke: Weg von der Gestaltung von Baukörpern hin zum Flächendesign. Statt neue Einfamilienhäuser zu bauen, wie die Stadt es plant, würde Baumeister die Chance nutzen, den öffentlichen Raum zu vergrößern - einen neuen Marktplatz ausweisen, den Park erweitern, einen Teich anlegen. Ob die Idee funktioniert, weiß allerdings niemand. Bisher gibt es in Deutschland so gut wie keine Erfahrungen mit dem geplanten Rückbau schrumpfender Städte. Auch, weil Kommunalpolitiker lieber Bebauungspläne für Zeiten entwickeln, in denen es wieder aufwärts geht. Das wird in Hoyerswerda nicht so bald der Fall sein. Von 66 000 Einwohnern zur Zeit der Wende sollen laut Prognosen im Jahr 2015 noch 29 000 übrig bleiben.
In der ehemaligen Kindertagesstätte direkt neben dem Abbruchgelände versuchen die Macher von „Superumbau“, mit einer Kunstausstellung, Filmproduktionen und der Aufführung von Alfred Matusches Theaterstück „Kap der Unruhe“ das Gespräch über die Folgen des Wandels anzustoßen. In der Ausstellung zeigt die amerikanische Videokünstlerin Laura Bruce eine mit Bürgern der Stadt produzierte Dauerlesung der Tagebücher von Brigitte Reimann - die Schriftstellerin lebte von 1960 bis 1968 in Hoyerswerda und hat den Aufbau einer sozialistischen Stadt mit seinen Hoffnungen und Problemen in ihrem Roman „Franziska Linkerhand“ verewigt. Die Frankfurter Künstlergruppe „Finger“ dokumentiert das Ergebnis des Wettbewerbs „evolutionäre Zellen“, der Graswurzelinitiativen zur Belebung des städtischen Umfelds prämiert hat. Das Gros der Arbeiten entsteht jedoch während des Abrisses selbst. Nicht weniger als 36 Künstler, darunter Christoph Schlingensief und die Berliner Gruppe „Stadt im Regal“, wollen demonstrieren, dass eine schrumpfende Stadt durchaus Ausgangspunkt für kulturelle Innovationen sein kann.
Die Mittel der „Superumbau“-Künstler stammen zu einem guten Teil von der Bundeskulturstiftung, die auch Initiativen in Halle-Neustadt, Manchester, Detroit und dem russischen Ivanovo unterstützt. Im Projekt „Shrinking Cities“ treibt die Stiftung zudem eine wissenschaftliche Untersuchung voran. Die Ergebnisse soll im Sommer 2004 eine Ausstellung in Berlin präsentieren. Wie erste Untersuchungen zeigen, klagen in den USA 59 Kommunen über einen drastischen Einwohnerverlust, in Deutschland sind es 26, selbst in Nigeria haben die Forscher 14 schrumpfende Städte ausgemacht. In den Industrienationen führt der Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft, die „De-Industrialisierung“, zum Einwohnerschwund. Die Automobil-Stadt Detroit etwa verlor in den vergangenen 50 Jahren fast die Hälfte ihrer einstmals 1,8 Millionen Einwohner. Vollzog sich der Wandel dort über fünf Jahrzehnte, ließ der Zusammenbruch des sozialistischen Systems viele ostdeutsche Städte geradezu implodieren.
In den Augen des Rentners Gerhard Schlegel produziert die BRD jetzt das, woraus die DDR laut ihrer Nationalhymne auferstanden war: Ruinen. „1968 bin ich voller Stolz nach Hoyerswerda gezogen“, sagt er. Drei Bäume hat er damals neben den jetzt abgerissenen Block gepflanzt. Ein Zeichen der Hoffnung. Die Bäume stehen noch, Schlegel will sich nicht unterkriegen lassen von dem Schwermut, der die Stadt durchzieht. Von architektonischen Lösungen erhofft er sich wenig: „Die Stadt besteht doch nicht bloß aus Häusern. Die Stadt das sind doch die Menschen.“ Vor einigen Monaten hat er deshalb eine Senioren-Akademie gegründet. Dort liest er mit anderen Texte des Soziologen Oskar Negt. Das Thema: Der Zusammenhang von Arbeit und menschlicher Würde.

Ausstellung täglich bis zum 27.09., Buchwalder Straße 35, Hoyerswerda. Aufführung „Kap der Unruhe“ am 26.09., 19.30. Weitere Infos: www.spiritofzuse.de/platte/

Steffen Kraft, Tagesspiegel vom 19.09.2003